Über sich selbst die Kontrolle verlieren

Die medizinische Auskunft lautet, dass die Multiple Sklerose eine chronische Entzündung von Gehirn und Rückenmark ist. Aber was bedeutet das für den, den es trifft und was steckt dahinter?
Die durch die MS verursachten gesundheitlichen Probleme können unterschiedlichster Art sein. Ob Betroffene Sehstörungen bekommen, nur noch schlecht laufen können, an spastischen Krämpfen oder einer krankhaft abnormen Müdigkeit, der sogenannten Fatigue, leiden – die Multiple Sklerose stellt das gesamte Leben auf den Kopf. Zu den krankheitsbedingten Einschränkungen kommt die Angst vor einer ungewissen Zukunft.

Sämtliche Funktionen des Menschen, seien es seine Sinneswahrnehmungen (die berühmten fünf Sinne), die Motorik, alle unwillkürlichen, vegetativen Funktionen, besonders die Blasen- und die Darmentleerungsfunktionen, aber auch seine intellektuellen Fähigkeiten und sein seelisches Erleben werden vom Gehirn gesteuert und zum Teil über das mit dem Gehirn unmittelbar verbundene Rückenmark weitergeleitet. Eine der Voraussetzungen für ein reibungsloses Funktionieren dieses Wunderwerkes der Natur mit seinen über 100 Milliarden Nervenzellen ist die Leitungsfähigkeit der von den Nervenzellen ausgehenden Nervenzellfortsätze, der sogenannten Axone. Jedes einzelne Axon ist von einer Schutzhülle, auch Markscheide genannt, umgeben. Diese ist mit der Isolierschicht eines elektrischen Kabels vergleichbar.  – Die Abstraktion des elektronenmikroskopischen Bildes dieser Markscheide ist das „Logo“ der Stiftung. – Von der Intaktheit der Isolierschicht hängt die Funktionsfähigkeit der Axone ab. Bei der Multiplen Sklerose kommt es genau hier durch die MS-bedingten Entzündungsvorgänge zur Beschädigung der Schutzhüllen und dadurch zu Funktionsbeeinträchtigungen.

Auch wenn grundsätzlich alle Funktionen des Gehirns beeinträchtigt sein können, treten gerade zu Beginn der Erkrankung häufig Sehstörungen, Gefühlsstörungen, vorwiegend an den Extremitäten, und Bewegungsstörungen auf. Ganz häufig und für die Betroffenen oft quälend ist eine krankhafte Ermüdbarkeit, die Fatigue, eine körperlich und psychisch eingeschränkte Leistungsfähigkeit, die unter Belastung sehr rasch zunimmt. Charakteristisch für die Krankheit ist der schubförmig-remittierende Verlauf und kommt von den unterschiedlichen Verlaufsformen der Multiplen Sklerose am weitaus häufigsten vor. Aus dem völligen Nichts heraus und oft ohne erkennbare Ursachen stellen sich die beschriebenen neurologischen Ausfallerscheinungen ein. Diese bilden sich gerade zu Beginn der Krankheit, häufig auch unbehandelt, nach einigen Tagen oder Wochen scheinbar wieder völlig zurück. Durch spezifische Untersuchungen lassen sich jedoch schon zu diesem frühen Zeitpunkt latente Schäden im Hirn feststellen. Mit jedem weiteren Schub steigt die Gefahr, dass es zu sichtbaren, bleibenden Behinderungen kommt.

Die Multiple Sklerose zeichnet sich durch zwei weitere Besonderheiten aus. Die eine ist das durchschnittliche Erkrankungsalter, eine zweite die ungleiche Geschlechterverteilung. Die Krankheit trifft vorwiegend junge Menschen, in sehr seltenen Fällen sogar schon Kinder. Nach der Pubertät nimmt die Zahl der Neuerkrankten deutlich zu und erreicht, statistisch gesehen, das Maximum um das 31. Lebensjahr. Aber auch in höherem Lebensalter kann es noch zur Erstmanifestation dieser Krankheit kommen. Zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. In Deutschland gehen wir heute insgesamt von mindestens 130.000, wahrscheinlich sogar 200.000 Betroffenen aus. Weltweit sind es ca. 2,5 Millionen. Die Lebenserwartung der Erkrankten ist nicht wesentlich eingeschränkt, so dass sie bei Diagnosestellung viele Jahrzehnte mit dieser schweren Krankheit vor sich haben.

Die Krankheit beruht auf einem autoimmunologischen Prozess. Das heißt, das Immunsystem der Betroffenen wird fehlgeleitet und greift das eigene Nervensystem an. Dank internationaler Forschung sind auf der Basis dieser Erkenntnis in den letzten Jahren zahlreiche Medikamente entwickelt worden. Damit hat sich therapeutisch viel getan. Für einen Teil der Patienten bedeutet dies insgesamt gesehen: weniger schwere Krankheitsverläufe, weniger bleibende Ausfälle. Alle Betroffenen profitieren durch einen deutlich besseren Umgang mit den zahlreichen durch die Grundkrankheit verursachten Symptome.
Eine Heilung ist bisher aber nicht in Sicht!

Damit bleibt auch die Unsicherheit. Denn welcher Patient von den modernen Behandlungen profitiert und welcher nicht, lässt sich nicht vorhersagen und erst nach längerer Behandlungsdauer beurteilen. Im ungünstigen Fall erst dann, wenn neue Schäden manifest werden. Hinzu kommt, dass mit immer größerer Wirksamkeit der Medikamente bei manchen  Patienten stärkere und in Einzelfällen sogar bedrohliche Nebenwirkungen beobachtet werden. Der medizinische Fortschritt ist unverkennbar, aber er schreitet nur langsam voran und ist offensichtlich noch weit von seinem Ziel – einer definitiven Heilung – entfernt. Da die Krankheit aber nicht heilbar ist, ist sie stets gegenwärtig, auch dann, wenn sich der Betroffene eigentlich gesund fühlt oder gerade von einem Schub erholt hat. Ganz plötzlich kann es wieder zu einem Schub, einer neuen Verschlechterung kommen.